Das Germanistische Institut trauert um Prof. Dr. Roland Harweg

Suaviter in modo, fortiter in re” – Zum Tode Roland Harwegs

Bevor ich als Teilnehmer eines linguistischen Proseminars an der Ruhr-Universität Bochum Roland Harweg Anfang der 70er Jahre persönlich kennenlernte, hatte ich schon allerhand Interessantes über jenen neuen jungen Professor gehört, unter anderem, er habe eine neue Grammatik geschrieben. Eine neue Grammatik hat Roland Harweg nicht geschrieben, aber er hat mit seiner Habilitationsschrift „Pronomina und Textkonstitution” von 1968 den wohl wichtigsten Grundstein für eine neue Art von Grammatik gelegt. „Der Objektbereich formaler Analysen innerhalb der modernen Sprachwissenschaft geht (…) im allgemeinen nicht über die hierarchische Stufe des Satzes hinaus” – so beginnt das Buch. Dass diese Feststellung heute, 50 Jahre später, nicht mehr zutrifft, ist nicht zuletzt das Verdienst von Roland Harwegs im wahrsten Sinne grundlegenden Beitrag zu dem Ende der 60er Jahre begründeten neuen sprachwissenschaftlichen Paradigma der Textlinguistik bzw. Text­grammatik. Harwegs „Pronomina”,  diese schnell zu einem Standardwerk gewordene erste große Monographie zur Textgrammatik, die ihren Autor zu einem international bekannten Sprachwissenschaftler machen sollte, zeigt schon jene Eigenschaft, die alle seine 17, z.T. mehrbändigen, Bücher und seine vielen Aufsätze auszeichnet: Sie ist auf den ersten Blick nicht sonderlich gefällig geschrieben, der Autor macht es dem Leser ebensowenig leicht wie sich selbst, doch wer sich einmal auf diesen unverkennbaren Harwegschen Duktus einlässt, merkt bald, worum es geht: Es geht um Genauigkeit, Genauigkeit in der Sache und Genauigkeit in der Sprache. Darin war er kompromisslos, Vereinfachungen waren seine Sache nicht. „Pronomina und Textkonstitution” zeigt die für Harwegs Werk typische Konzentration auf den einen wesentlichen Punkt und dessen konsequente und rigorose klassifikatorische Durchdringung. Davon sind nicht nur auch seine späteren Arbeiten etwa zur Deixis oder zu den Tempora geprägt, diese denkerische Konsequenz zeigt sich auch in den von seiner frühen Münsteraner Antrittsvorlesung ausgehenden Arbeiten zum Verhältnis von Sprache und Musik, wo er, wie in den „Pronomina” von L. Hjelmslev ausgehend, entgegen der verbreiteten und beliebten Vorstellung von Musik als einer anderen Art von Sprache auf der grundsätzlichen semiotischen Differenz von Sprache und Musik beharrt. Dieses Beharren auf dem als wesentlich Gesehenen läßt den Textgrammatiker unter dem Vielerlei von Textaspekten in der ununterbrochenen pronominalen Verknüpfung der Sätze das eine wesentliche, notwendige „textkon­stitutive” Merkmal entdecken. Dieser eben gerade nicht „reduktionistische” Ausgang erlaubt es ihm, in den folgenden Jahren alle möglichen Arten von Text, schriftliche und mündliche, monologische und dialogische, wissenschaftliche und Nachrichtentexte, Einzeltexte und Makrotexte in ihrer jeweiligen Spezifik zu beschreiben. In seinem Buch „Situation und Text im Drama”, in dem er sich unter Einbeziehung auch pragmatischer und fiktionstheoretischer Aspekte mit Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame” beschäftigt, hat er seine Textkonzeption eindrucksvoll auf ein Drama angewendet, nachdem er sich zuvor in mehreren Aufsätzen der erzählenden Gattung, insbesondere der fiktionalen Erzählung und deren erzählgrammatischen und fiktionstheoretischen Problemen gewidmet hatte.

Es ist nicht möglich, von der Breite und Vielfalt des Harwegschen Œuvre hier auch nur eine ungefähre Vorstellung zu vermitteln. Betont sei deshalb nur, dass der textgrammatische Teil dieses Werks, so sehr Harwegs Name insbesondere mit ihm verbunden ist, davon nur einen Teil darstellt, und nur hingewiesen sei auf seine Arbeiten zum Verhältnis von Objekt- und Metasprache und zum Verhältnis von Laut und Schrift, seine Studien zum Verb und seine wortlinguistischen Arbeiten etwa zum Thema „Namen und Wörter”, so der Titel eines anderen Buches, in dem es unter anderem um die Übersetz­barkeit von Eigennamen und das Verhältnis von Eigen- und Gemeinnamen geht: Dass Eigennamen auf Gemeinnamen zurückgehen, sie auf einem, wie Harweg sagt, „Gemeinnamensockel” stehen,  ist nur eine der vielen Einsichten, die etwa dieser Teil seines Werks eröffnet.

Sein Geburtsjahr 1934 bezeichnete er mit Hinweis auf Karl Bühlers „Sprachtheorie” gerne scherzhaft als guten Jahrgang. Und mit dem von Bühler 1934 thematisierten Phänomen der Deixis ist ein weiterer und sehr wichtiger Schwerpunkt von Roland Harwegs Wirken angesprochen. Auch hier wieder dasselbe Verfahren: Ausgehend von einer komplexen Definition von Deixis werden dann deren verschiedene Spielarten beleuchtet. Einer der deiktischen Dimensionen hat Harweg ganz besonderes Augenmerk gewidmet, der temporalen. Neben anderen nicht tempusbezogenen Studien zum Verb stellen seine Arbeiten zu den Tempora des Deutschen und seine „Studien über Zeitstufen und ihre Aspektualität”, so der Titel eines Sammelbandes, einen anderen großen Schwerpunkt des Harweg­schen Werks dar.

Roland Harweg war kein gelernter Germanist. Studiert hat er (von 1955 bis 1961) an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft, Latein, Griechisch und Sanskrit. In den Fächern Latein und Griechisch hat er das Staatsexamen abgelegt und 1961 mit der 1964 als „Kompositum und Katalysationstext, vornehmlich im späten Sanskrit” erschienenen Dissertation bei seinem Lehrer Peter Hartmann promoviert, bei dem er sich 1965 mit „Pronomina und Textkonstitution” auch habilitierte. Bis 1969 hat er dann in Münster gelehrt, bevor er 1969 als ordentlicher Professor für germanistische Sprachwissenschaft ans Germanistische Institut der Ruhr-Universität Bochum berufen worden ist, wo er, trotz eines Rufs an die Bonner Universität, bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999 lehrte. Seine Herkunft aus der allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft hat er auch als Bochumer Germanist nie verleugnet: So hat er sich in vielen seiner Arbeiten (etwa in seinen „Studien zu Konjunktionen und Präpositionen” oder dem der von ihm so genannten reduzierten Rede des Typs Ich bin der und der und bin dann und dann da und da geboren gewidmeten Buch „Sekundäre Unbestimmtheit”) nicht nur mit anderen indogermanischen Sprachen, sondern immer wieder auch mit Erscheinungen aus nichtindogermanischen Sprachen, wie etwa dem Japanischen, dem Koreanischen, dem Arabischen und vor allem dem Chinesischen und Ungarischen auseinandergesetzt und auch uns, seine Schüler, dazu ermutigt, über den germanistischen Tellerrand hinauszusehen.

Nach seiner Emeritierung hat sich Harweg unter anderem mit Fragen der Chronographie beschäftigt und dazu 2008/2009 sein vierbändiges „Zeit in Mythos und Geschichte” vorgelegt, in dem er zwei Grundformen von Chronographie unterscheidet, die historiographische und die mythogra­phische, die er in Texten unterschiedlicher Zeiten und unterschiedlicher Kulturen aufzeigt.

Sein letztes 2017 in der von seinem ersten Bochumer Assistenten, dem späteren Direktor des Mün­stera­ner Instituts für Allgemeine Sprachwissenschaft Clemens-Peter Herbermann begründeten und nach dessen Tod von Roland Harweg herausgegebenen Reihe „Sprache – Kommunikation – Wirklichkeit” erschienene Buch trägt den Titel „Leben und Tod”.

Vom Sanskrit über die Rolle der Pronomina in der Textkonstitution, über eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen zur neuhochdeutschen und zur sprachvergleichenden Grammatik dann schließlich zu den Themen „Chronographie” und „Leben und Tod” – Roland Harweg ist einen weiten Weg gegangen, den allergrößten Teil der Strecke begleitet von seiner Frau Elke, die wenige Tage vor ihm gestorben ist.

Roland Harweg hatte ein Motto: „Suaviter in modo, fortiter in re”. Für den  Denker und Autor stimmte das „fortiter in re”, für den Menschen und Lehrer das „suaviter in modo”. Ich habe mir in den fast 50 Jahren unserer Bekanntschaft nur ein einziges Mal eine etwas schroffere Bemerkung eingefangen: Da hatte ich (es war vor sehr vielen Jahren) geglaubt, einen Witz über seinen Verein Borussia Dortmund machen zu sollen.

Roland Harweg hat oft von seinem Lehrer Peter Hartmann gesprochen und ihn immer auch so genannt: „mein Lehrer Hartmann”. Mein Lehrer Harweg ist nun im Alter von 84 Jahren gestorben. Er war ein großer Sprachwissenschaftler, ein Gelehrter und ein guter Freund.

Suaviter in modo, fortiter in re.

Dr. Peter Canisius (Universität Pecs)