Das Germanistische Institut trauert um Prof. Dr. Harro Müller-Michaels

Zwei Figuren der griechischen Mythologie sind es, die das Emblem der Ruhr-Universität über lange Zeit abgebildet hat: Prometheus und Epimetheus, die für den progressiv-vordenkenden und den nachdenklich-geisteswissenschaftlichen Forschertypus stehen. Diese und andere Gegensätze durch Synthesen zu überwinden gehörte zu den vielen Aufgaben, denen sich Harro Müller-Michaels gewidmet hat, übrigens mit ausdrücklichem Bezug auf diese Figuren. Das Germanistische Institut trauert um ihn, der am 19. Oktober 2023 im Alter von 87 Jahren verstorben ist, als einen seiner prägenden Angehörigen. Nicht nur in den Konzeptionen seines Faches, sondern auch nach außen in die Bildungsöffentlichkeit, in Schul- und Hochschulinstanzen hinein hat er eine eminente Wirkungskraft entfaltet – und an der RUB auch das Ruhrgebiet als kulturell gestaltbare Region entdeckt.

© RUB, Marquard

Seine Doppelbegabung entwickelte Harro Müller-Michaels früh: Als Lehrkraft erwirbt er in Münster das Zweite Staatsexamen, sodann legt er eine Dissertation über Kleists Zeitbegriffe im Drama vor. Er bekleidet Akademische Ratspositionen an Pädagogischen Hochschulen in Niedersachsen und NRW, ist dann 1971 bis 1975 Lehrstuhlinhaber für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Bayreuth. 1975 folgt er einem Ruf der Ruhr-Universität auf den eigens gegründeten Lehrstuhl ‚Literaturwissenschaften – Didaktik der Germanistik‘, den er bis zu seiner Emeritierung 2001 innehatte.

Vorausdenker ist Harro Müller-Michaels didaktisch und bildungspolitisch seit den 70er Jahren gewesen – stets zur Auseinandersetzung bereit, um Klarheit in den Sachen zu gewinnen. Die Hinwendung zum Praxisfeld Schule und Beobachtungen der Unterrichtsabläufe haben sein Programm geprägt (dazu seine Antrittsvorlesung „Literatur im Alltag und Unterricht. Ansätze zu einer Rezeptionspragmatik“, 1974). Ein Beispiel für seine Wege in der empirischen Unterrichtsforschung mit qualitativen Fallanalysen ist die Langzeitstudie mit eigenem Unterricht 1980 bis 1983 an einem Bochumer Gymnasium. Die Erfahrungen dieser Zeit sind in dem Buch „Deutschkurse“ (1987) versammelt, weiterhin haben sie sich in der Mitherausgeberschaft der didaktischen Zeitschrift „Deutschunterricht“ (ab 1997) niedergeschlagen, ebenso in der Entwicklung von Deutsch-Lesebüchern.

Neben inhaltlichen Begründungen von kanonischen und neuen, gegenwärtigsten Texten sind seine methodischen Überlegungen entscheidend gewesen, die unter dem Begriff der ‚produktiven Rezeption‘ die Aktivität von Schüler:innen stärken sollten. Als ‚Handlungs- und Produktionsorientierung‘ ist dieser Ansatz namhaft geworden in Lehrwerken der Bundesrepublik und Lehrplänen einiger Bundesländer. Betont hat Müller-Michaels aber immer das Gleichgewicht – Methoden müssen inhaltsbezogen bleiben, sie sollen nicht nur dazu dienen, Literatur sinnlich erfahrbar zu machen, sondern auch die Analyse schärfen. In einem Überblicksband hat Harro Müller-Michaels 2009 („Grundkurs Lehramt Deutsch“) seine Erkenntnisse zusammengetragen und wiederum mit den neuesten Schulbedarfen abgeglichen. Didaktik, so noch seine Überzeugung beim letzten Kolloquium an der RUB 2019 zum Thema ‚Normativität‘, soll Stellung nehmen und sich engagieren, sie soll umfassende Kulturarbeit leisten und den Mut aufbringen, nachprüfbare Normen in Erziehung und Unterricht zu setzen (die Beiträge sind im Sammelband „Normativität. Systemische und praktische Ansätze für den Deutschunterricht“ 2021 erschienen).

Lange bevor der Begriff des Netzwerkens diskursfähig wurde, hat Müller-Michaels dies mit seinem enormen Kommunikationstalent in viele Richtungen hin praktiziert. Daran erinnern sich auch Generationen von Studierenden, die mit Neugier und Respekt in seine Veranstaltungen gingen, aber auch Rat und Anregungen suchten und sich mit großem Vertrauen an ihn wandten – in zahllosen Einzelgesprächen hat er sich den unterschiedlichsten Charakteren zugewendet, Probleme ging er mit pragmatischem, klugem Blick, mit guter Laune und Humor an. Legendär waren seine diskussionsfreudigen, agonalen Oberseminare zu aktuellen didaktischen und literaturtheoretischen Themen, aus denen viele Schülerinnen und Schüler hervorgegangen sind, die dann im Schulwesen oder an Universitäten Karriere gemacht haben. Was heute ‚forschendes Lernen‘ ist, war seit den 80er Jahren dort greifbar.

Arbeit im Verbund war für Müller-Michaels aber auch eminent politisch, Fahrten nach Düsseldorf ins Schul- oder Wissenschaftsministerium gehörten zum Alltag. Hochschulpolitisch engagiert war er von 1984 bis 1987 als Dekan der Fakultät für Philologie, bevor er von 1996 bis 2000 als Prorektor für Lehre, Studium und Studienreform der Ruhr-Universität Bochum wurde und als Sprecher der Prorektoren des Landes Nordrhein-Westfalen tätig war. In dieser Zeit installierte er das Zentrum für Lehrerbildung, den Vorläufer der heutigen Professional School of Education. Die Einführung des Regelstudiengangs Bachelor/Master betrieb er an der RUB (als einer der ersten Universitäten der BRD) ganz entschieden mit – auch hier in der pragmatischen Absicht, gesellschaftliche Bedarfe mit der Hochschullehre abzustimmen, ohne die akademische Leistung zu schwächen.

Ein weiteres Bestreben lag darin, die Verbindung von Universitäts- und Stadtöffentlichkeit zu stärken. Von 1988 bis 2006 leitete er die Literarische Gesellschaft Bochum und organisierte über 200 Lesungen mit nationalen und internationalen Autor:innen, zu denen etwa Herta Müller, Günter Grass oder György Konrád zählten. Dass man überhaupt ein derart panoramisches Tätigkeitsfeld bedienen kann, ist auf eine starke Überzeugung zurückzuführen, die Harro Müller-Michaels bis zum Ende seines Lebens Kraft gegeben hat: Wer in bildender Absicht an Schule und Hochschule arbeitet, muss über seine Dinge Mitteilung machen wollen und stets die eigenen Themen und Methoden in der Gesellschaft rechtfertigen – dann ist die Arbeit hoffnungsvoll. Im Institut wirken seine Impulse nach, sein vielfältiges Engagement ist Maßstab und wird beispielgebend bleiben.

Wir vermissen ihn sehr – als Kollegen, Bildungspraktiker, als Menschen und Freund.

Für das Germanistische Institut: Prof. Dr. Ralph Köhnen