Publikation in Science: „Ein Drittel der europäischen Großepik des Mittelalters ging verloren“

Modelle aus der Ökologie können die prozentuale Überlieferung mittelalterlicher Helden- und Rittergeschichten berechnen

Ein internationales, interdisziplinäres Forscherteam, darunter eine Wissenschaftlerin der Ruhr-Universität Bochum, fand heraus, dass nicht weniger als ein Drittel aller ehemals existierenden mittelalterlichen europäischen Ritterromane im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen und heute unbekannt sind. Das Team verwendete für seine Berechnungen Modelle aus der Ökologie, mit denen seltene Arten gezählt werden.

„Wir hatten die Vermutung, dass die statistischen Methoden zur Zählung seltener Arten in der Ökologie – jene Arten, die Ökologen nie in ihren Daten sehen – auch verwendet werden könnten, um die Anzahl der verlorenen literarischen Werke zu schätzen“, sagt Mike Kestemont, Professor für computergestützte Geisteswissenschaften an der Universität Antwerpen. „So behandelten wir literarische Werke wie eine Spezies in der Ökologie, die erhaltenen Manuskripte als Beobachtungen einer bestimmten Spezies.“

Prozentuale Überlieferung

Das Forscherteam, das aus Wissenschaftler:innen von zwölf Forschungseinrichtungen besteht, berechnete auf diese Weise, dass 32% aller mittelalterlichen höfischen Romane und anderer Heldengeschichten im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen sind. Es wird geschätzt, dass der Verlust mittelalterlicher Manuskripte noch größer ist, nämlich mehr als 90%. „Wir haben die Überlebensraten literarischer Werke für sechs mittelalterliche Sprachräume getrennt betrachtet und große Unterschiede innerhalb Europas festgestellt“, erklärt Remco Sleiderink, an der Universität Professor für mittelniederländische Literatur, ein Spezialist für die Fragmentkunde. „Etwa 80% der Werke in deutscher, isländischer und irischer Sprache sind erhalten geblieben, während weniger als 50% der niederländischen, englischen und französischen Literatur noch bekannt sind.“

„Die mittelalterliche deutsche Literatur ist bemerkenswert gut überliefert“, ergänzt Elisabeth de Bruijn, Forscherin an der Ruhr-Universität Bochum und an der Universität Antwerpen. „Im deutschsprachigen Raum sind ganz generell viele Handschriften erhalten geblieben. Dem verdanken sogar mehrere niederländische Ritterromane ihr Überleben.“

„Wir fanden auch heraus, dass die ursprüngliche ‚evenness‘ (Gleichmäßigkeit) von Inselliteraturen wie der von Irland und Island höher war“, sagt Folgert Karsdorp, Forscher am KNAW Meertens Institute (Amsterdam). „‚Evenness‘ ist ein Konzept, das wir wieder aus der Ökologie ableiten. Es bedeutet, dass es eine gleichmäßigere Verteilung von Handschriften über alle Werke hinweg gibt, so dass die Unterschiede zwischen den beliebtesten und den am wenigsten populären Werken geringer sind. Eine gleichmäßigere Verteilung macht ein Kultursystem widerstandsfähiger gegen dramatische Verluste durch äußere Bedingungen wie etwa Bibliotheksbrände.“

Neue Forschungspotenziale

Das Team glaubt, dass seine Arbeit neue Potenziale für die Erforschung kultureller Artefakte aus der Vergangenheit eröffnet. Denn die eingesetzte Methode wurde nicht speziell für die Ökologie oder die mittelalterliche Literatur entwickelt, sondern ist viel breiter anwendbar. In den historischen Kulturwissenschaften könnte diese Methode genutzt werden, um z.B. die Bestände antiker Münzen, verlorene Volksmärchen oder sogar vergessene Maler zu studieren.

Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht. Weitere Informationen zu den Forschungen finden Sie auf der Website des Projekts.

Zusätzliche Informationen? Nehmen Sie dann per E-Mail Kontakt zu den Forscher:innen auf:

  • Prof. Mike Kestemont, Professor für computergestützte Geisteswissenschaften (Universität Antwerpen); mike.kestemont@uantwerpen.be
  • Dr. Folgert Karsdorp, Forscher, spezialisiert auf kulturelle Evolution und computergestützte Geisteswissenschaften (KNAW Meertens Instituut); folgert.karsdorp@meertens.knaw.nl
  • Dr. Elisabeth de Bruijn, wissenschaftliche Mitarbeiterin, spezialisiert auf niederländische und deutsche Ritterromane (Ruhr-Universität Bochum / Universität Antwerpen); elisabeth.debruijn@rub.de und elisabeth.debruijn@uantwerpen.be
  • Prof. Matthew Driscoll, Professor für altnordische Philologie (Universität Kopenhagen); mjd@hum.ku.dk
  • Dr. Katarzyna Anna Kapitan, Forschungsstipendiatin mit dem Schwerpunkt altnordische Literatur und Buchgeschichte (Linacre College, Oxford); katarzyna.kapitan@ell.ox.ac.uk
  • Prof. Pádraig Ó Macháin, Professor für Modernes Irisch (University College Cork); p.omachain@ucc.ie
  • Dr. Daniel Sawyer, spezialisiert auf frühe englische Poesie und Manuskripte (Merton College, Oxford); daniel.sawyer@ell.ox.ac.uk
  • Prof. Remco Sleiderink, Professor für niederländische Literatur, spezialisiert auf Fragmentkunde (Universität Antwerpen); remco.sleiderink@uantwerpen.be oder 0485 426946
  • Prof. Anne Chao, Professorin mit Spezialisierung auf ökologische Statistik und Biodiversitätsanalyse (National Tsing Hua University, Taiwan); chao@stat.nthu.edu.tw